Rheinpfalz am Sonntag, 30. September 2018
Was ist eine Hetzjagd, was eine Flüchtlingswelle und hat Angela Merkel 2015 wirklich die Grenzen geöffnet? Mit geschickter Wortwahl lässt sich das Denken verändern. Besser, man hört in politischen Debatten ganz genau hin.
Sprache ist niemals unschuldig. Was der französische Philosoph Roland Barthes mit diesem Satz gemeint hat, war in den Wochen nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz mal wieder zu beobachten. Denn es begann eine hitzige mediale Debatte um ein einziges Wort: Hetzjagd. Am Ende war Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen nicht mehr zu halten – weil er öffentlich ohne Nachprüfung die Echtheit eines Handy-Videos bezweifelt hatte, das sich dann eben doch als echt herausstellte.
Maaßen flüchtete sich dann in die Kritik, Medien hätten zu schnell von einer Hetzjagd gesprochen. Zeigt das als „Hase-Video“ bekannt gewordene kleine Filmchen also nun eine Hetzjagd, eine Jagdszene oder einen fremdenfeindlichen Angriff? Und warum sollte das überhaupt wichtig sein? Sind Diskussionen über einzelne Worte angesichts der widerwärtigen Szenen in Sachsen nicht lächerliche, wenn nicht sogar gefährliche Wortklauberei?
Nicht wenige Journalisten sind dieser Meinung. Georg Restle, Leiter des ARD-Magazins Monitor, sprach etwa im Deutschlandfunk von einer „grotesken Debatte“, die sich mit der absurden Frage beschäftige, wie viele Meter man eigentlich zurücklegen müsse, bis von einer Hetzjagd gesprochen werden könne. Nach Restles Ansicht lenkt die Auseinandersetzung von den wirklich wichtigen Tatsachen ab, nämlich, dass es gerade eine rechtsextreme Mobilisierung in Deutschland zu beobachten gebe.
Doch es ist nicht egal, welche Begriffe in gesellschaftlichen Debatten benutzt werden. Sprache ist nicht einfach eine Abbildung der Wirklichkeit, sie schafft überhaupt erst Wirklichkeit. Erst indem über etwas gesprochen wird, kann es gemeinsam erfahren werden. Und wie über etwas gesprochen wird, ist entscheidend für seine Bedeutung. Denn jedes Wort erzeugt eine ganze Reihe weiterer Begriffe und Bezüge, die es wie ein Rahmen umfassen und so ein Bild in unserem Kopf entstehen lassen. Nur auf diese Weise kann unser Gehirn Worte überhaupt begreifbar machen. Sprachwissenschaftler und Gehirnforscher bezeichnen dieses Phänomen deshalb als „Framing“ (von „frame“, englisch für Rahmen).
„Es ist höchste Zeit, unsere Naivität gegenüber der Bedeutung von Sprache in der Politik abzulegen“, schreibt die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling in ihrem Buch „Politisches Framing“. Was zunächst einmal abstrakt klingt, lässt sich fast jeden Tag im politischen Wettstreit beobachten. Der US-amerikanische Linguist George Lakoff ist einer der prominentesten Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Er analysiert seit Jahren die innenpolitische Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Republikanern unter dem Gesichtspunkt des Framing.
Lakoff zeigt beispielsweise, wie es den Republikanern unter George W. Bush im Wahlkampf gelungen war, den bis dahin geläufigen Begriff der „Steuersenkung“ in das Wort „Steuererleichterung“ umzuwandeln und so das Framing des Begriffs komplett zu verändern. „Damit es eine Erleichterung geben kann, muss erst einmal jemand unter etwas leiden“, so Lakoff. „Gleichzeitig ist derjenige, der Erleichterung verschafft, ein Held, der Verursacher aber der Böse.“ Das Thema war aus republikanischer Sicht damit fast schon gewonnen. Denn welcher Demokrat wollte den amerikanischen Bürgern danach schon verkünden, dass er ihnen „Erleichterungen“ verwehren wolle?
Dieser Kniff funktionierte vor allem deshalb so gut, weil Frames immer dann besonders effektiv sind, wenn das Gehirn auf konkrete körperliche Erfahrungen und Empfindungen zurückgreifen kann. Schmerzen, Gerüche, Geräusche – wer es schafft, dass die Wähler seine Agenda mit solchen Empfindungen verknüpfen, hat besonders gute Karten. So konnten Forscher zeigen, dass Menschen beim Lesen des Wortes „Salz“ auch die für das Schmecken zuständigen Gehirnregionen aktivierten.
Hinter dem Coup der Republikaner steckte übrigens nicht einfach ein Geistesblitz, sondern langjährige strategische Planung – und ein pausbäckiger Oxford-Absolvent namens Frank Luntz. Der 56-jährige Politikberater und Meinungsforscher gilt als „Guru der öffentlichen Meinung“. Die Büros seiner Firma Luntz Global gleichen linguistischen Testlabors, in denen Worte auf ihre Wirkung hin geprüft werden.
Luntz’ Aufgabe besteht darin, genau diesen einen Begriff zu finden, der die öffentliche Debatte zugunsten seiner Auftraggeber lenken könnte. Vor allem für republikanische Politiker und Klimaschutz-Gegner war Luntz schon mehrmals das entscheidende Ass im Ärmel. Aus seiner Feder stammt die Vorgabe, konsequent vom „Klimawandel“ zu sprechen, statt von der bedrohlicher wirkenden „Globalen Erwärmung“.
Luntz ist nur der prominenteste Vertreter einer ganzen Armee aus Beratern und Instituten („Thinktanks“). Seitdem der ultrakonservative republikanische Kandidat Barry Goldwater bei den Präsidentschaftswahlen 1964 krachend scheiterte, hat die Partei nach Recherchen diverser Medien mehrere Milliarden Dollar in den Aufbau einer nachhaltigen Framing-Industrie gesteckt. In den vergangenen 15 Jahren haben auch die Demokraten ebenfalls große Summen in solche Thinktanks fließen lassen.
Alles nur Hokuspokus und Spielerei? Schließlich lassen sich vernünftige Bürger doch nicht von Worthülsen, sondern von Fakten in ihren Entscheidungen beeinflussen? Von wegen. So fanden Psychologen heraus, dass sich Patienten deutlich häufiger für eine Operation entschieden, wenn sie ihnen mit einer 90-prozentigen Überlebenschance statt mit einem zehnprozentigen Sterberisiko präsentiert wurde.
In Deutschland versuchen Parteien, Unternehmen und Interessengruppen, gesellschaftlichen Debatten Frames aufzudrücken. Derzeit tobt etwa im Hambacher Forst der Kampf um die Deutungshoheit. Während der RWE-Konzern für seine Rodungen zum Braunkohleabbau den Interpretationsschlüssel der „Versorgungssicherheit“ ins Feld wirft, sprechen die Aktivisten von „Waldsterben“. Begriffe wie „Flüchtlingswelle“ sind mittlerweile Standard in manchen Nachrichtenredaktionen. Wer das Wort liest, denkt an wilde Brandung, an Überschwemmungen und unkontrollierbare Naturgewalten. Menschen kommen darin nicht vor.
So entstehen Vorurteile und Diskriminierung. Dabei ist es übrigens ungleich schwieriger, eine Verknüpfung wieder aus den Köpfen zu bekommen. Neurowissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass das menschliche Gehirn Informationen ausblendet, die nicht in den zuvor aktivierten Frame passen. Wer also einen Begriff aus der Welt schaffen will, muss einen mindestens ebenso bildstarken Gegenspieler entwerfen – die bloße Ablehnung eines Begriffs hält ihn immer weiter am Leben. Die Aussage „Es gibt keine Flüchtlingswelle“ erreicht nach Lakoffs Erkenntnissen demnach genau das Gegenteil.
Versuche des Framings gibt es deshalb aus jedem politischen Lager. Wie die Rahmen ständig hin und her verschoben werden, zeigt sich ebenfalls am Dauerstreitthema Einwanderung. So können Zuwanderer zu Asyltouristen, Flüchtlingen, Geflüchteten oder Schutzsuchenden werden – der unbewusste Blick auf die betroffenen Menschen ändert sich je nach Begriff fundamental.
Man denke auch an den „Banken-Rettungsschirm“, der zockende Kredithäuser zu schützenswerten Opfern äußerer Umstände machte. Oder die „Freisetzung“ von Arbeitnehmern, die sich über ihre neu gewonnene Arbeitslosen-Freiheit wohl auch noch freuen sollen. Kritiker des Betreuungsgelds machten deutlich, welches Frauenbild sie hinter der „Herdprämie“ vermuteten. Und die „Grenzöffnung“ von September 2015, die Kritiker Angela Merkel bis heute vorwerfen, war in Wahrheit der Verzicht auf die Schließung der seit Jahrzehnten offenen Schengen-Grenzen zu Österreich. Wer eine aktive Öffnung nahelegt, symbolisiert, dass Merkel den Flüchtlingen ihren Weg nach Deutschland so leicht wie möglich machen will, sie geradezu einlädt. Der Verzicht auf eine Schließung wiederum betont den humanitären Aspekt ihrer Entscheidung.
Was bedeutet das alles nun für den Hetzjagd-Streit? Wenn man das Konzept des Framings ernst nimmt, kann es keine hundertprozentige Objektivität geben. Das Zauberwort lautet daher: Transparenz. Aufgabe von Medien sollte es sein, die eigenen Rahmensetzungen immer wieder zu hinterfragen. Diskussionen über die richtigen Begriffe müssen selbst dann geführt werden, wenn ein weitgehender Konsens darüber besteht, dass die betreffenden Ereignisse zu verurteilen sind. Tun wir nicht so, als sei die Sprache ein Unschuldslamm.