Die Rheinpfalz, 07. Juni 2017
Ein Suchtexperte fordert seit Jahren vergeblich härtere Auflagen für die Hersteller der Chemikalie GBL. Denn der Stoff, den in Deutschland hauptsächlich die BASF produziert, ist leicht erhältlich und wird als Droge und als K.o.-Tropfen missbraucht. Wie weit muss die Verantwortung von Firmen für ihre Produkte eigentlich reichen?
Im November 2016 taucht der Name Michael Rath plötzlich in so gut wie jeder deutschen Tageszeitung auf. Rath ist zu jener Zeit Chefarzt der Suchtabteilung in einer baden-württembergischen Psychiatrie. Und er führt einen vermeintlich aussichtslosen Kampf. Sein Gegner: Gamma-Butyrolacton, kurz GBL. Der chemische Grundstoff wird jährlich zu Hunderttausenden Tonnen produziert. Er dient als Lösungsmittel, Felgenreiniger oder Farbentferner, außerdem zur Herstellung von Antibiotika oder Pflanzenschutzmitteln.
Aber GBL hat noch ein anderes Gesicht, mit dem Mediziner Rath auf seiner Station jeden Tag zu tun hat. Trinkt man es, wandelt der Körper den Stoff zu Gamma-Hydroxybuttersäure (GHB) um – auch bekannt als Liquid Ecstasy, eine beliebte Partydroge. Kleinere Mengen euphorisieren und enthemmen den Konsumenten ähnlich wie Alkohol. Allerdings ohne den gewohnten Kater, und mit fast schlagartiger Ernüchterung nach etwa zwei Stunden. So schildern es auch Nutzer aus der Clubszene. Bei einer weiteren Erhöhung drohen jedoch Bewusstseinsverlust und sogar der Tod. Besonders gefährlich: Zwischen den einzelnen Wirkungen liegen nur Milliliter in der Dosierung.
Doch für einige Kriminelle scheinen diese unerwünschten Nebenwirkungen des Stoffes geradezu ideal zu sein. Sie benutzen GBL als K.o.-Tropfen. Weil die farblose Substanz sich leicht in Getränke mischen lässt – und weil sie schon nach zwölf Stunden nicht mehr im Blut und Urin der Opfer nachweisbar ist. Genau deswegen gibt es allerdings auch so gut wie keine belastbaren Zahlen zum GBL-Missbrauch, beispielsweise bei Sexualdelikten. Sowohl Ermittlungsbehörden als auch Suchtexperten sprechen von einer „vermutlich sehr hohen Dunkelziffer“.
GBL wirkt wie eine Droge – aber es ist keine. Zumindest nicht nach Einschätzung der Bundesregierung. Denn während das fast identisch wirkende GHB seit 2001 ins Betäubungsmittelgesetz aufgenommen ist, kann man GBL immer noch ohne Probleme konsumieren. Zwar ist der Verkauf zu Konsumzwecken in Deutschland seit 2009 strafbar, im Internet lässt sich die Literflasche aber bequem für knapp 75 Euro bei Versandhändlern aus Osteuropa bestellen – getarnt als Felgenreiniger. So einfach bekommt man den Drogenrausch sonst wohl kaum. Dabei macht der Stoff schnell süchtig, wie Rüdiger Münzer, Leitender Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie in Klingenmünster (Landkreis Südliche Weinstraße) sagt. Der klinische Entzug ähnele dem bei einem Alkoholiker.
Der Grund für die immer noch fast freie Verfügbarkeit von GBL ist einfach erklärt, die Frage nach der Verantwortung dafür dagegen komplex. Denn eine Einordnung als Betäubungsmittel würde für die Chemieindustrie einen drastischen Einschnitt und umfangreiche Umstellungen bedeuten. Dagegen wehrt sich die Lobby – bislang mit Erfolg. Beim Bundesgesundheitsministerium heißt es auf Anfrage, man habe intensiv geprüft, ob man GBL dem Betäubungsmittelgesetz unterstellen könnte, und dabei erhebliche Bedenken entwickelt. Fragen nach Treffen mit Vertretern der Chemieindustrie beantwortet das Ministerium nicht.
Ein Verbot scheint gegen diese Phalanx kaum durchsetzbar. Aber gibt es Alternativen, um Opfer zu schützen und Drogenmissbrauch zu vermeiden? Ein Vorbild könnte der Umgang mit Flunitrazepam sein. Dem Schlafmittel wurde nach zunehmendem Einsatz als K.o.-Tropfen ein blauer Farbstoff beigemischt. Experte Michael Rath scheint eine ähnliche Lösung gefunden zu haben. Sie lautet: Vergällung. Dabei würde GBL ein Bitterstoff zugesetzt, dessen hohe Konzentration einerseits die Reinheit der Chemikalie für den industriellen Gebrauch garantieren soll. Andererseits wären potenzielle Opfer durch den Geschmack gewarnt.
In Deutschland ist der größte Produzent von GBL die BASF. Der Ludwigshafener Konzern produziert jährlich etwa 50.000 Tonnen der Chemikalie. Dort heißt es zu Raths Vorschlag: „Ein Vergällung ist mit den meisten Anwendungen aus heutiger Sicht nicht kompatibel, da sie zur Verunreinigung des Stoffes und der daraus hergestellten Produkte führen kann.“ Man prüfe die Möglichkeit für einzelne Produkte aber weiterhin.
Aber ist die Industrie nur zu bequem oder lässt sich das Verfahren wirklich nicht anwenden? Die Frage stellt kaum jemand. Rath zumindest hat darauf schon einmal keine Antwort: „Dazu bin ich zu wenig Chemiker, als dass ich das einschätzen könnte“, antwortet er immerhin ehrlich. Von seiner Forderung will er trotzdem nicht abrücken.
Till Opatz sollte es allerdings einschätzen können. Er ist Professor für Organische Chemie an der Universität Mainz. Opatz sagt: „Eine Vergällung mit Bitterstoffen ist technisch umsetzbar und für Mengen, die nicht direkt im Werk verarbeitet werden, auch sinnvoll.“ Zwar könne man den Zusatz durch Destillation wieder entfernen, dies erfordere aber einen gewissen Aufwand. „Zusätzlich könnte man wie beim Industriealkohol mit zwei Vergällungsmitteln arbeiten. Dann wären auch solche Umwege versperrt“, sagt der Forscher.
Die Reinheit der Produkte sieht Opatz nicht gefährdet. „Die zugesetzten Mengen wären so gering, dass sie chemisch nicht ins Gewicht fallen dürften“, sagt er. Er spricht von Bereichen, in die bereits andere unvermeidliche Verunreinigungen bei der Produktion fallen würden.
Etwas weniger überzeugt ist Werner Thiel von der TU Kaiserslautern: „Es ist schon okay, die Industrie in die Pflicht zu nehmen.“ Aber den Stoff bekomme man so oder so nicht mehr aus der Welt, selbst wenn er künftig nicht mehr so leicht erhältlich wäre: „Für die Garagenherstellung von dem Zeug brauchen sie noch weniger Chemiekenntnisse als für Amphetamine“, sagt der Dekan der Chemischen Fakultät.
Aber berechtigt das Hersteller und Politik dazu, den Missbrauch einfach zu ignorieren? Bei der BASF wehrt man sich gegen den Vorwurf der Verantwortungslosigkeit. Pressesprecher Michael Wadle verweist darauf, dass über 80 Prozent des hergestellten GBL direkt weiterverarbeitet würden: „Diese Mengen verlassen das Werk erst gar nicht.“ Für den Rest habe man sich gemeinsam mit europäischen und nordamerikanischen Herstellern zur strengen Überwachung der Lieferketten verpflichtet.
„GBL geht nur an streng überprüfte industrielle Endkunden und wenige speziell ausgewählte Chemikalienhändler“, sagt Wadle. Die Selbstkontrolle will das Unternehmen jetzt auch Konzernen aus dem Fernen Osten schmackhaft machen, so der Sprecher. Das könnte sich durchaus lohnen. Denn von dort, vor allem aus China und Indien, stammt nach Erkenntnissen deutscher Ermittlungsbehörden hauptsächlich das in der Drogenszene kursierende GBL. Trifft die Kritik letztlich also vielleicht sogar die Falschen?
Michael Rath überzeugt das alles nicht. Die Argumente der Industrie seien doch eine merkwürdige Kombination, sagt er. Wenn unvergälltes GBL künftig illegal sei, helfe das letztlich doch auch den europäischen Firmen, um sich bei Missbräuchen von den schwarzen Schafen aus Fernost zu distanzieren.
Womöglich ist der wahre Adressat von Raths Kritik aber auch gar nicht die Wirtschaft. Ihm geht es um etwas viel Grundsätzlicheres: „Auf GBL treffen alle Merkmale des Betäubungsmittelgesetzes zu“, erklärt er. „Entweder nimmt also die Politik ihre eigenen Gesetze ernst, oder man kann es auch gleich lassen.“
Zur Sache:
GBL ist im Blut nur sechs und im Urin nur bis zu zwölf Stunden nachweisbar. Bei Mischkonsum mit Alkohol treten zudem häufig Gedächtnislücken auf. Für Kriminelle ist diese Eigenschaft ideal, für Ermittler fatal. Denn bis mutmaßliche Opfer zu einer ärztlichen Untersuchung erscheinen, vergeht meist mehr Zeit. Verlässliche Statistiken zu Sexualverbrechen unter dem Einsatz von K.o.-Tropfen gibt es daher keine. Das Landeskriminalamt in Mainz spricht von 76 Strafanzeigen aus dem Jahr 2016, bei denen der Verdacht auf K.o.-Tropfen bestand. In der bundesweiten polizeilichen Kriminalstatistik gibt es den Tatbestand „K.o.-Tropfen“ nicht.
Während Suchtmediziner und Vereine wie „Frauennotrufe für vergewaltigte Frauen in Rheinland-Pfalz“ davon ausgehen, dass viele Fälle erst gar nicht angezeigt würden, zweifeln Kritiker vereinzelt daran, dass K.o.-Tropfen tatsächlich oft bei Vergewaltigungen benutzt werden („rape drug“). Vielmehr sei Alkohol laut einer Studie im Auftrag der EU die mit Abstand am häufigsten eingesetzte Droge. Eine andere Untersuchung im „British Journal of Criminology“ aus dem Jahr 2009 spricht in Bezug auf K.o.-Tropfen gar von einer „modernen Sage“. Dass GBL schwer nachweisbar sind, muss bei solchen Bewertungen allerdings mitgedacht werden.xgr