Profiboxen in Deutschland: Eine Abrechnung

Rheinpfalz am Sonntag, 06. September 2018

Jahrelang hat das deutsche Profiboxen sich und die Zuschauer geblendet. Dann kam die Quittung. Gelernt haben die Protagonisten daraus aber nichts. Eine Abrechnung

Als der Brite Rocky Fielding den damaligen WBA-Weltmeister Tyron Zeuge, 26, in einer Julinacht dieses Jahres auf die Bretter schickt, erschüttert sein Schlag nicht nur den Gegner aus Berlin, sondern auch die heimische Boxwelt. Deutschland hat erstmals seit vielen Jahren keinen Weltmeister im Profiboxen mehr. Tatsächlich aber klingt diese Nachricht schlimmer als sie in Wahrheit ist: Denn das selbsternannte Box-Land Deutschland hatte selbst zu vermeintlichen Glanzzeiten nur selten Champions, die diesen Titel wirklich zu Recht trugen.

Das mag ketzerisch klingen. Wer aber in den vergangenen Jahren hinter das grelle Licht der PR-Blendgranaten blickte, stellte leicht fest, dass es dort ziemlich düster aussah. Man nehme nur die Entzauberung des jahrelang als Berserker überhöhten Marco Huck durch den Ukrainer Oleksandar Usyk. Oder die ernüchternden Niederlagen des deutschen Vorzeigechampions Arthur Abraham, wenn es gegen die tatsächliche Weltspitze seiner Gewichtsklasse ging. Der technische K.o. des Berliners Zeuge war nur der jüngste auf einer langen Liste von sportlichen Betriebsunfällen in einem lange Zeit gut laufenden System.

Es wird also Zeit, dass der deutsche Boxsport endlich aus seiner Filterblase heraustritt. Denn die vermeintliche Erfolgsgeschichte gleicht einer Fata Morgana. Sie beginnt – allerdings noch ganz real – am 20. März 1993 mit dem Gewinn der IBF-Weltmeisterschaft im Halbschwergewicht durch den „Gentleman“ Henry Maske. Der Olympiasieger von 1988 wurde zum Superstar und verhalf dem Sport in der Bundesrepublik zu einem völlig neuen Stellenwert – und einem ungekannten wirtschaftlichen Potenzial für Veranstalter und Vermarkter. Die halbe Nation fieberte vor den Bildschirmen mit, wenn sich deutsche Kämpfer im Ring behaupteten. Axel Schulz’ Titelfight gegen Frans Botha wollten damals 18 Millionen sehen – ein Marktanteil von fast 70 Prozent. Kein Monat verging, in dem nicht irgendwelche Titelkämpfe die großen Arenen des Landes füllten.

Boxen wurde zum Millionengeschäft, und wie in jedem Geschäft ging es fortan darum, die Nachfrage mit immer neuen strahlenden Produkten hochzuhalten. Zwischenzeitlich kämpften mehr als ein Dutzend Weltmeister in deutschen Boxställen. Die beiden größten, Sauerland und Universum, verdienten sich goldene Nasen mit exklusiven Fernsehverträgen. Das Publikum berauschte sich an seinen Gladiatoren und vermeintlichen Weltstars.

Wie konnte es dazu kommen? Die Szene profitierte dabei gleich von mehreren Besonderheiten des Profiboxens. Erstens: die Ahnungslosigkeit der meisten Zuschauer. Denn entgegen landläufiger Vorurteile ist der Sport höchst komplex und anders als bei Fußball oder Tennis sind nur die wenigsten Fans selbst aktiv. Ob der bullige WM-Herausforderer aus Aserbaidschan also wirklich der angekündigte Spitzensportler oder nur ein besserer Kirmesboxer ist, vermögen die meisten kaum zu beurteilen. Das gleiche gilt für fragwürdige Trefferwertungen von Kampfrichtern.

Zweitens: die Vielzahl von Verbänden und Titeln. Mit WBA, WBO, WBC und IBF gibt es allein vier, die als bedeutend gelten. Hinzu kommen einige weitere, die zumindest so tun, als wären sie es. Jede dieser Organisationen verleiht neben dem WM-Titel noch weitere Gürtel, deren sportliche Bedeutung gegen Null geht. Wer dem Publikum also einen Titelträger präsentieren wollte, fand fast immer irgendeinen geeigneten Verband.

Drittens: die Bedeutung des Wortes „Profi“. In kaum einem anderen Sport hat die Bezeichnung wohl so wenig mit dem tatsächlichen Leistungsvermögen der Athleten zu tun. Im Fußball beispielsweise sind alle Bundesligaspieler Profis, alle Bezirksligakicker dagegen Amateure. Im Boxen braucht es nur einen windigen Promoter, der sich von den Auftritten seines Schützlings Profit verspricht, und schon darf der sich Berufsboxer nennen. Das führt dazu, dass sich auf der ganzen Welt bessere Straßenkämpfer in schummrigen Gyms verprügeln und das Ganze dennoch als Profikampf firmiert. Wer sich also einmal gefragt haben sollte, wer dieser Amerikaner mit dem beeindruckenden Kampfrekord von 35 Siegen war, den der deutsche Weltmeister gerade verprügelt hatte – ein Blick auf die Liste seiner früheren Gegner hätte sich gelohnt.

Und viertens: der Wettkampfmodus. Im Profiboxen existieren kein Ligasystem und keine Weltmeisterschaften in Turnierform. Zwar gibt es für amtierende Weltmeister sogenannte Pflichtverteidigungen, doch sollte es einmal brenzlig werden, öffnet sich immer eine Hintertür. So wurde der damalige WBA-Weltmeister Felix Sturm 2010 kurzerhand zum Superchampion ernannt, damit er der Pflichtverteidigung gegen den stärker eingeschätzten Gennadi Golovkin entgeht. Kurz: Kämpfe werden vereinbart. Wenn sich die Promoter nicht über Gage oder Veranstaltungsort einigen können, gibt’s keinen Kampf. Und wenn Promoter nicht wollen, dass ihr Zugpferd verliert, dann wird es meist auch keine Einigung geben.

Wie perfekt Sauerland und Universum bis Mitte der Nullerjahre ihr Luftschloss auf diesen Säulen errichteten, zeigt ein bemerkenswerter Satz, den der amerikanische Ausnahmeboxer Roy Jones Jr. einmal sinngemäß gesagt haben soll: „Ich bin überall unschlagbar – außer in Deutschland.“

Doch die Mauern begannen auch hierzulande langsam zu bröckeln – der Markt war schlicht übersättigt. Höchst fragwürdige Kampfwertungen und die ausbleibenden Duelle der deutschen Weltmeister ließen das saturierte Publikum irgendwann murren. Zudem zeigten neue verbandsübergreifende Tunierformate, in denen erstmals wirklich die Besten einer Gewichtsklasse gegeneinander antraten, in erschreckender Weise die fehlende internationale Spitzenklasse der heimischen Champions. Die Einschaltquoten sanken, Universum meldete 2013 Insolvenz an, die öffentlich-rechtlichen Sender zogen sich aus dem Sport zurück. Der abgehalfterte Graciano Rocchigiani konstatierte 2016 ernüchtert: „Es wimmelt von völlig sinnlosen Titelkämpfen und Pseudo-Champions.“ Tyron Zeuges Kampf gegen Fielding füllte die Offenburg-Arena noch nicht mal zur Hälfte. Das wirklich Tragische ist nun: Die Protagonisten haben aus den vergangenen 30 Jahren nichts gelernt. Nächsten Samstag wird in der Ludwigshafener Friedrich-Ebert-Halle mit Vincent Feigenbutz (Karlsruhe) wieder ein junger talentierter Kämpfer in den Ring steigen, der schon zum künftigen Weltmeister verklärt wurde, obwohl er trotz der Bilanz von 28 Siegen in 30 Kämpfen noch gegen keinen aus der Top 40 des Supermittelgewichts geboxt hat.

Bleibt die Frage, ob das überhaupt jemals geschehen wird. Denn wieder wird das gleiche alte Lied gespielt: Feigenbutz’ ursprünglich geplanter Gegner Toni Kraft kündigte sich großspurig als ungeschlagener IBF-Europameister an, vergaß dabei aber zu erwähnen, dass er den Titel gegen den völlig unbekannten Vasiliy Sarbajew gewonnen hatte, der wenige Monate zuvor noch in einem Kasseler Autohaus in den Ring gestiegen war. Währenddessen verkündete Sauerland ungeniert: „Wir haben eine Auswahl an Titeln, um die die beiden Jungs boxen könnten – und werden uns auch bald einigen.“ Maßgeschneiderte Gürtel nach Bedarf – eine Farce.

Und weil die Verantwortlichen offenbar nicht verstehen wollen, dass auch die vermeintlich glorreiche Vergangenheit nur eine Chimäre war, sind Lösungsansätze nicht in Sicht. Stattdessen heißt es: Weiter so! „Wir müssen hoffen, dass irgendwann wieder ein Rohdiamant rausfällt“, gab der Präsident des Bunds deutscher Berufsboxer, Thomas Pütz, lapidar zu Protokoll. Promoter Nisse Sauerland meinte nach Zeuges Niederlage: „Wir brauchen einfach ein paar Jahre, um wieder etwas aufzubauen.“

Dabei ist offensichtlich, wo die Krise des deutschen Profiboxens herrührt: Talentförderung und Ausbildung im olympischen Amateurbereich sind nicht gut genug. Zwar gilt nicht die Formel „Jeder gute Amateur wird auch ein guter Profi“, umgekehrt ist das aber fast immer der Fall. Eigentlich jeder auch in Fachkreisen anerkannte Profi-Weltmeister der vergangenen Dekaden hatte auch eine olympische Medaille in der heimischen Vitrine stehen. Schwergewichtsweltmeister Anthony Joshua, das ukrainische Phänomen Vassyl Lomatschenko, Lennox Lewis, Wladimir Klitschko, Floyd Mayweather Jr. In den vergangenen 22 Jahren haben deutschen Boxer gerade mal acht Medaillen gewonnen – eine goldene war nicht dabei.

Ungeachtet dessen geht es hierzulande derweil munter weiter. Gerade läuft bei Sport1 die neue Casting-Show „The Next Rocky“ mit Rocchigiani als Zugpferd an. Im Stile Heidi Klums will der 54-Jährige dabei den neuen Stern am deutschen Boxhimmel finden. Boxsporterfahrung ist laut Sender übrigens keine Teilnahmevoraussetzung.

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