Die Rheinpfalz, 02. November 2016
Der Linguist Noam Chomsky gilt als einer der einflussreichsten lebenden Denker, eine Leitfigur der kritischen Linken. Bei einem Auftritt in der ausverkauften Heidelberger Stadthalle wurde er empfangen wie ein Popstar. Warum sich das Phänomen Chomsky nicht über Inhalte, sondern nur über seine Funktion verstehen lässt.
Auch wenn das jetzt ketzerisch klingen mag: Bei Noam Chomsky geht es nicht so sehr um seine durchaus einflussreichen Arbeiten zur Linguistik. Wer Chomsky zitiert, der beruft sich meist auf seine politischen Schriften und wer den Intellektuellen Chomsky erwähnt, der meint meist den linken Aktivisten und unermüdlichen Kritiker des imperialistischen Neoliberalismus. Der heute 87-jährige Sohn jüdischer Einwanderer ist so schon recht früh zu einer wichtigen Identifikationsfigur für anarchistische Globalisierungskritikern, linke Bildungsbürger und Vertreter des reflexhaften Anti-Amerikanismus europäischer Prägung geworden – eine bunte Mischung.
In seinen Büchern prangert Chomsky faktenreich und rigoros die Abwesenheit von Moral im Kapitalismus an, und stellt die US-Außenpolitik als rein profitorientierte Kriegsmaschinerie dar. Sei es der Vietnamkrieg, der „War on Terror“ nach dem 11. September oder die manipulierenden Massenmedien – es gibt fast kein Thema, das Chomsky nicht in eine leidenschaftliche Brandrede zwischen zwei Buchdeckel gepackt hätte. In der Sache und moralisch sind seine Analysen oft schmerzhaft treffend. Besonders überraschend sind sie aber aus politikwissenschaftlicher oder philosophischer Sicht eigentlich nicht. Kurz gesagt: Schuld ist eine privilegierte Elite, die das Machtmonopol nur zum eigenen Vorteil verwaltet. Immer wieder haben ihm Kritiker deswegen linke Plattitüden und mangelnde Originalität in seinem Denken vorgeworfen.
Woran liegt es also, dass sein Vortrag in Heidelberg im Vorfeld Anmutungen eines Popkonzerts hatte? Ursprünglich im deutlich kleineren Deutsch-Amerikanischen Institut geplant, war die Veranstaltung in kürzester Zeit ausverkauft und wurde in die Stadthalle verlegt. Kapazität: 1400 Plätze. Auch hier gab es nach wenigen Tagen keine Kartenmehr, viele Facebook-Nutzer posteten verzweifelte Ticketanfragen.
Nun, der Inhalt von Chomsky Vortrag allein kann es jedenfalls nicht gewesen sein. Während das Publikum aus Heidelberger Kulturestablishment und hippen Studierenden andächtig zuhörte, verlas Chomsky recht routiniert, wenn auch mit geistreicher Ironie gespickt, seinen Versuch einer Antwort auf die leitmotivische Frage: Welche Prinzipien und Werte beherrschen unsere Welt? Eine klare Antwort bekam man indes nicht. Letztlich blieb vor allem der Befund einer ungerechten Herrschaft der Wenigen über die Vielen hängen.
Das Phänomen Chomsky ist daher weniger über seine politischen Inhalte zu verstehen. Viel näher kommt man ihm über seine öffentliche Funktion. Denn Chomsky ist wohl der letzte „public intellectual“ von Weltrang. Der Begriff meint große Denker, denen es gelingt, vom akademischen Elfenbeinturm ihrer Spezialdisziplin herabzusteigen und auch in aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten Position zu beziehen. Er selbst hat dieses Engagement in seinen Essays immer wieder gefordert: „Die Intellektuellen haben die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken“, schrieb er beispielsweise schon 1967. Ein Blick auf die heutige Debattenlandschaft zeigt dagegen einen fast schon programmtischen Anti-Intellektualismus, durch den sich vor allem dröge Berufspolitiker und Funktionäre profilieren. Allein deshalb gilt ein Richard David Precht hierzulande schon als Philosoph.
Die Popularität Chomskys ist also Ausdruck eines fundamentalen Dilemmas unserer digitalen Informationsüberforderung: Gerade weil mittlerweile fast das gesamte menschliche Wissen im Netz frei verfügbar ist, haben wir selbst das Gefühl, eigentlich gar nichts mehr zu wissen. Während sich die einen auf der Suche nach einfachen Wahrheiten den rechten Populisten zuwenden, steht die bürgerliche Linke gerade ziemlich orientierungslos da. Es fehlt an intellektuellen Gallionsfiguren, die in dem globalen Meinungschaos Orientierung bieten könnten. Im Falle Chomskys bedeutet das: Es kommt nicht darauf an, ob es eine bahnbrechende Erkenntnis ist, den US-Einmarsch in den Irak als Verbrechen zu bezeichnen, das auf Lügen basiert. Allein die Tatsache, dass er diesen geläufigen Einordnungen sein intellektuelles Gewicht verleiht, macht ihn so wichtig.
Entsprechend universelle Antworten auf die ganz großen Fragen unserer Zeit erhoffte sich das Heidelberger Publikum. Wieman den IS bekämpfen solle? Ist Veganismus moralische Pflicht? Oder auch ganz einfach: Was können wir denn nur tun, um etwas an dieser Welt zu ändern? Chomskys knappe Antwort darauf: „Eigentlich alles. Tun Sie es einfach.“