Die Rheinpfalz, 03. Dezember 2016
Jeden Tag sterben in den USA durchschnittlich drei Menschen durch Kugeln aus einer Polizeiwaffe – viele davon sind Schwarze. Heftige Proteste erschüttern daher immer wieder das Land. Die Kritiker werfen den Behörden Rassismus vor. Aber die Gründe für die tragischen Todesfälle sind auch struktureller Natur. Denn die Ausbildung der Ordnungshüter müsste dringend reformiert werden.
Tamir Rice starb mit einer Spielzeugpistole in der Hand an einem nasskalten Novembertag 2014. Kurz zuvor hatte ein besorgter Anwohner der Polizei in Cleveland eine bewaffnete Person auf der Straße gemeldet. Die tragischen Ereignisse danach hielt eine Überwachungskamera fest. Ein Polizeiwagen rauscht heran, hält nur wenige Meter vor dem Schüler, der in einem Pavillon auf einem Grünstreifen sitzt. Etwa zwei Sekunden nachdem die Streife vor Ort eingetroffen ist, liegt Rice getroffen am Boden. Er wurde zwölf Jahre alt.
Es sind Fälle wie dieser, die Amerikas Gesellschaft immer wieder wie ein Faustschlag treffen. Die Namen Tamir Rice, Eric Garner oder Michael Brown stehen für tödliche Fälle von Polizeigewalt, deren Tragik, Brutalität und offensichtliche Sinnlosigkeit schockieren. Offizielle Zahlen zu den Opfern gibt es nicht. Die Tageszeitung „Washington Post“ trägt daher eine eigene Datenbank zusammen. Danach töteten Polizisten allein in diesem Jahr bereits 881 Menschen, im vergangenen Jahr waren es 991 – bei einer Bevölkerungszahl von 322 Millionen. In Deutschland, wo 82 Millionen leben, starben 2015 zehn Menschen durch Kugeln von Beamten.
Der öffentliche Diskurs über die Vorfälle wird hitzig und emotional geführt. Immer wieder erschüttern heftige Proteste der afroamerikanischen Gemeinschaft das Land. Gruppen wie „Black Lives matter“, also „Schwarze Leben zählen“, fordern mit lauter Stimme ein Ende rassistisch motivierter Polizeigewalt. Die Konflikte sind Ausdruck einer Gesellschaft, die immer noch mit beklemmenden Auswüchsen von strukturellem und individuellem Hass auf Minderheiten zu kämpfen hat. Und tatsächlich zeigen die Zahlen, dass Bevölkerungsgruppen wie Schwarze und die Nachfahren der indianischen Ureinwohner anteilig am häufigsten zu Opfern werden.
Die Sicherheit der Polizisten wird im Training beinahe religiös überhöht
Aber kann das allein erklären, warum die beiden Beamten in Cleveland innerhalb von Sekunden auf einen zwölfjährigen Jungen schossen, ohne einen Versuch, die Situation zu klären? Seth Stoughton genügt diese Erklärung nicht. „In den meisten Fällen lag es nicht daran, dass ein einzelner Cop Rassist war. Es lag daran, dass dieser Cop genau das getan hat, was ihm beigebracht wurde“, sagt der ehemalige Streifenpolizist und jetzige Rechtsprofessor an der Universität von South Carolina.
Stoughton kritisiert die weit verbreiteten Erklärungsmuster, nach denen die Todesschützen als einzelne schwarze Schafe präsentiert werden. So wie Officer Timothy Loehmann, der Tamir Rice erschoss. Der Polizist war zuvor von Vorgesetzten eigentlich als untauglich für den Dienst eingestuft worden, wie aus den später veröffentlichten Untersuchungsberichten hervorgeht. Damit scheint der Fall klar. Ein einzelner schlechter Cop kann schließlich immer einmal durchrutschen.
Doch die entscheidende Frage ist nicht: War es ein schlechter Cop? Sondern, was macht eigentlich einen guten Cop aus? Ein Blick auf die Polizeiausbildung in den USA gibt darauf alarmierende Antworten. Nach Daten des US-Justizministeriums von 2013 dauert die durchschnittliche Ausbildung zum Streifendienst nur 21 Wochen. Manche Cops sind sogar nach lediglich neunwöchiger Schulung mit einer Waffe am Gürtel unterwegs. Eine nationale Richtlinie gibt es nicht. Dauer und Inhalte können sich deshalb von Staat zu Staat, aber auch von Stadt zu Stadt immens unterscheiden.
Fast 700 verschiedene Akademien und Schulen bieten Trainings an, die auf den Polizeidienst vorbereiten sollen. Ungefähr die Hälfte der Schulen wird als „stress-based“ eingestuft – hier orientieren sich Form und Inhalt an Militärakademien. „Sobald die Einrichtungen gewisse minimale Anforderungen erfüllt haben, wird ihnen eine unglaubliche Freiheit in der Ausgestaltung der Lehrpläne überlassen“, sagt Stoughton. Was das bedeutet, geht aus Datensätzen des Justizministeriums hervor. Während der Ausbildung üben die Rekruten durchschnittlich 71 Stunden am Schießstand den Umgang mit ihrer Waffe. 60 Stunden werden Techniken zur Selbstverteidigung gelehrt und 49 Stunden an der eigenen Fitness gearbeitet – das Trainingsprogramm eines Soldaten. Deeskalation und kommunikative Problemlösungen werden mit durchschnittlich 21 Stunden dagegen im Schnelldurchgang abgehandelt. Frei nach dem Motto: „Wer länger redet, ist schneller tot.“
Amerikas Polizei bildet Kämpfer aus und will doch Freund und Helfer sein
Die Kriminologin Maki Haberfeld vom John Jay College in New York kritisiert das scharf: „Emotionale und soziale Intelligenz ist für gute Polizeiarbeit entscheidend, und das wird einfach nicht gelehrt.“ Das erklärt, warum in absoluten Zahlen die meisten Getöteten weiße Amerikaner sind, und warum auch schwarze Polizisten zu Todesschützen werden – die Rassismusdebatte greift hier trotz aller Dringlichkeit zu kurz.
Amerikas Polizei bildet Kämpfer aus, kauft ausrangierte Panzerfahrzeuge von der Armee und will doch der freundliche Beschützer aus der Nachbarschaft sein. Ein Dilemma, dessen Ursprung Experte Stoughton mit nur einem Wort beschreibt: Angst. Es ist das Dilemma einer Gesellschaft, die so viel auf ihre Freiheit gibt, Waffen zu tragen, und gleichzeitig in dauernder Furcht vor ihnen lebt. „Die Sicherheit der Polizistenwird im Training beinahe religiös überhöht“, sagt Stoughton: „Es wird einem eingeimpft, dass jede Begegnung eine tödliche Bedrohung darstellen kann.“
Während das Vertrauen in die Polizeibehörden laut Meinungsumfragen immer weiter sinkt, kommt aus den eigenen Reihen Selbstkritik. „Wir müssen die brutalen Fakten endlich akzeptieren“, sagt Chuck Wexler, Vorsitzender des Police Executive Research Forum (PERF) in Washington, einer Forschungsgruppe von Führungskräften der Polizei. „Das Training von Deeskalationsstrategien muss komplett neu durchdacht und konsequent umgesetzt werden.“ In einem kritischen Thesenpapier prangert das PERF eine antrainierte Polizeikultur an, die sich hauptsächlich über entschlossenes Handeln definiert. „Konfliktsituationen zu beruhigen und erst einmal Rücksprache mit den Vorgesetzten zu halten, wird oft als Schwäche ausgelegt“, heißt es darin.
Dabei gebe es doch Beispiele von besonders reformwilligen Polizeibehörden: Dort endeten weniger Einsätze gewaltsam, wenn zuvor beim Training Wert auf Deeskalationsstrategien gelegt wurde. Die epidemische Verbreitung von Schusswaffen dürfe zudem keine Ausrede mehr sein. „Geistig verwirrte Menschen mit einem Messer gibt es beispielsweise auch in England“, sagt Wexler. „Nur werden sie dort nicht von der Polizei erschossen.“
Anders als beim viel tiefer gehenden Rassismusproblem wäre also allein durch Reformen der Ausbildung eine Verbesserung des angespannten Klimas zwischen Bürgern und Behörden möglich. Die kleinteilig lokale Organisation der über 18.000 verschiedenen Polizeibehörden könnte dem allerdings auch weiterhin einen Strich durch die Rechnung machen. Sie sind in ihrem Handeln weitgehend autonom. „Manche von ihnen denken da sehr progressiv, andere dagegen sind ganz weit hintendran“, sagt Rechtsprofessor Stoughton. Aber weil die einzelnen Behörden auch lokal finanziert werden, haben viele schlicht nicht die Mittel, um in eine verbesserte Ausbildung zu investieren.
Ein Großteil von ihnen sind kleine Sheriffbüros in ländlichen und strukturschwachen Regionen. Sie haben oft weniger als zehn Mitarbeiter und Schwierigkeiten, überhaupt genug Personal für den Streifendienst zu finden. „Solche Dienststellen können ganz auf sich allein gestellt überhaupt keine kontinuierliche Weiterbildung ihrer Angestellten gewährleisten“, beklagt Chuck Wexler. Nationale, verpflichtende Standards wären eine mögliche Lösung, aber die hält Maki Haberfeld schlicht für politisch nicht gewollt. „Ich plädiere jetzt fast zwanzig Jahre lang dafür“, sagt die weltweit anerkannte Expertin für Polizeitraining. „Und ich glaube nicht, dass so etwas jemals passieren wird.“